Selbstkompetenz Achtsamkeit
Wie wir unsere Führungskompetenz nachweislich stärken.
15.05.2017Gerhard Liska
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Achtsamkeit ist ein besonderer Bewusstseinszustand und wird in östlichen Traditionen, wie zum Beispiel dem Buddhismus, schon lange als Weg der Selbsterforschung und spirituellen Entwicklung genutzt. Für unser westliches Denken ist Achtsamkeit hingegen ein noch eher unbekanntes Terrain. Das ist schade, denn gerade in der europäischen Leistungskultur, die auf Effektivität und Effizienz ausgerichtet ist, kann diese Art der Aufmerksamkeit sowohl in der Selbstführung als auch in der Führung anderer Menschen und Organisationen sehr nützlich sein.
Im folgenden Artikel stelle ich die Besonderheiten von Achtsamkeit vor. Da dieser Blog-Post mehr als einen bloßen Diskussionsprozess abbildet, liegt es mir am Herzen, konkrete und praxisnahe Nutzenaspekte aufzuzeigen.
Begriffsabgrenzungen: Achtsamkeit ≠ Aufmerksamkeit
Aufmerksamkeit = Konzentration, aufmerksam sein
Auf etwas konzentriert zu sein bedeutet, die ganze Aufmerksamkeit auf einen spezifischen und begrenzten Bereich der Wahrnehmung zu fokussieren. Ich konzentriere mich etwa auf eine bestimmte Aussage in einem Artikel, den ich gerade lese, oder lausche konzentriert meiner Lieblingsmusik. Beides hat mit einem sorgsamen Umgang zu tun. Ich stelle die neu erworbenen Weingläser behutsam in mein Küchenregal und freue mich, dass ich jetzt auch für Rotwein passende Gläser habe.
Achtsamkeit = Innenschau, offen sein
Im Unterschied zum Fokus der Aufmerksamkeit ist im Modus der Achtsamkeit die Aufmerksamkeit nicht eingeengt, sondern offen und erweitert für das gesamte Spektrum unserer Wahrnehmung. Achtsamkeit unterscheidet sich daher von dem, was wir umgangssprachlich unter Begriffen wie Konzentration oder Aufmerksamkeit verstehen.
Es geht um das Aktivieren einer inneren Beobachtungsinstanz, um das Wahrnehmen als bewusste Handlung aus dem Moment heraus: „Was ist jetzt gerade, in diesem Moment?“ Ein solcher Wahrnehmungsmodus setzt voraus, offen zu sein für das, was mich berührt. Er setzt auch voraus, meinen Wahrnehmungen zu (ver-)trauen.
Selbstbeobachtung als Ressource
Ausgangspunkt für die Achtsamkeit ist die Selbstbeobachtung: Meine Aufmerksamkeit richtet sich nach innen, auf das, was ich denke und tue. Dieses ist der Gegenstand meiner aufmerksamen Beobachtung und Analyse. Aufmerksamkeit ist jedoch eine kritische Ressource: Sie steht nicht unbeschränkt zur Verfügung und richtet sich üblicherweise auf die Sache, die aktuell für mich bedeutsam ist. Daher laufen automatisierte Denk- und Verhaltensmuster und Routinen selbständig ab, ohne dass es Selbstbeobachtungs- und Wertungsprozesse dafür braucht.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Routine des Autofahrens: Mit dem Erlangen einer gewissen Praxis automatisieren sich die Handlungsabläufe des Autofahrens. Radio hören oder telefonieren über die Freisprecheinrichtung werden dadurch erst möglich. Ansonsten wäre der Aufmerksamkeitsfokus so sehr auf die Handlungsfolgen des Autofahrens konzentriert, dass für konkurrierende Handlungsabläufe keine oder kaum mehr Aufmerksamkeit übrigbliebe.
Selbstbeobachtung setzt Objektivierung voraus, das heißt die Einnahme einer exzentrischen Perspektive, die dem Bewusstsein erlaubt, die Begrenztheit der Erklärungskraft der bisherigen Erklärungsmodelle und persönlichen Vergleichsstandards zu erkennen.
Eben darum, weil Aufmerksamkeit und daher auch Selbstaufmerksamkeit begrenzte Ressourcen sind, müssen wir uns für die Selbstbeobachtung Zeit nehmen. Sie läuft nicht einfach so nebenher mit. Selbstbeobachtung kann jedoch trainiert und perfektioniert werden und gewinnt damit den Charakter einer automatisierten Routine. Selbstbeobachtung wird zur Gewohnheit.
Was ist Achtsamkeit?
Achtsamkeit ist, wie bereits beschrieben, ein spezifischer Aufmerksamkeits- oder Bewusstseinszustand. Welche besonderen Merkmale kennzeichnen diesen Bewusstseinszustand?
Drei Aspekte sind besonders bedeutsam (Bishop 2004; Weiss & Harrer 2010):
- Installierung einer inneren Beobachtungsinstanz
Diese Beobachtungsinstanz kann passend als ‚innerer Beobachter’ bezeichnet werden. Es geht darum wahrzunehmen, was an inneren Regungen, Gefühlen, Gedanken und Bildern auftaucht, ohne sich von ihnen mitreißen zu lassen. Dies verweist auf das Beobachten „aus der Distanz“, aus der Meta-Ebene, und entspricht der Außenperspektive, die als wichtig für die Selbstbeobachtung erkannt wurde.
Die Einnahme dieser inneren Beobachterposition ermöglicht es mir, das eigene Handeln in einen größeren Kontext zu setzen, um es dadurch besser zu verstehen. Ich kann es so mit alternativen Entwürfen vergleichen. Damit wird es mir im nächsten Schritt möglich, neue Erklärungsmodelle auszubilden, mit denen ich die Umwelt umfassender wahrnehmen und verstehen kann.
Überleitung zur Praxis – Einüben der inneren Beobachtung
In meiner Vorstellung trete ich einen Schritt zurück, um mir mein Tun aus der Entfernung anzusehen. Ich achte auf meinen Körper und mache mir bewusst, dass ich ihn beobachten kann – und darum mehr bin als mein Körper.
Ich achte auf meine Gedanken und mache mir bewusst, dass ich meine Gedanken beobachten kann – und darum mehr bin als die Gedanken. Diesen Beobachtungsprozess kann ich für meine Gefühle wiederholen. Schließlich beobachte ich mich selbst beim Beobachten und mache mir dies bewusst. Dieser „Beobachter des Beobachters“ entspricht dem inneren Beobachter. - Nicht-wertende Grundhaltung
Innere Vorgänge wie eigene Gedanken und Gefühle, aber auch andere Menschen mit ihren Gefühlen und Handlungen in der Umwelt, werden wahrgenommen und akzeptiert, wie sie sind. Aus dieser Haltung heraus wahrzunehmen bedeutet, sich nicht dazu verführen zu lassen, diese Wahrnehmungen mit Vorerfahrungen zu vergleichen, in Schubladen zu stecken und mit Etiketten wie ‚gut’, ‚schlecht’, ‚positiv’ oder ‚negativ’ zu versehen. Es ist, was es ist.
Beispiel aus der Führungspraxis
Im Führungsalltag erweitert sich damit meine Perspektive: Ich löse mich von der Bewertung eines Lösungsvorschlages hinsichtlich richtig oder falsch und gewinne Raum zur Berücksichtigung entstehender Konsequenzen aus einer Handlung, die gesetzt wird. - Gegenwärtigkeit als Verweilen im Moment
Achtsamkeit bedeutet, sich dem gegenwärtigen Moment zuzuwenden. Hierbei ist es wichtig, eine möglichst offene und neugierige Haltung einzunehmen. Es geht um das Wahrnehmen dessen, was gerade im Moment ist und sich zeigt. Das folgende Zitat von Thich Nhat Hanh beschreibt dies so: „Wirkliches Leben erfahren wir nur im Hier und Jetzt. Die Vergangenheit ist schon vorüber, und die Zukunft ist noch nicht da. Nur im gegenwärtigen Augenblick können wir das Leben wirklich berühren“ (Thich Nhat Hanh, 1998, S. 17). Der Sozialpsychologe Erich Fromm nennt dies den Sein-Modus im Unterschied zum Haben-Modus (Fromm, 2010).
Beispiel aus der Führungspraxis
Gegenwärtig im Moment zu sein, erlaubt mir, auf das zu reagieren, was gerade ist. Statt in Gedanken bereits das nächste Meeting zu strukturieren, kann ich in einem Mitarbeitergespräch beispielsweise die Befindlichkeiten, Nöte und Wünsche des Mitarbeiters wirklich wahrnehmen und abholen.
Nutzen achtsamen Handelns
Eine achtsame Haltung im Sinne der drei genannten Aspekte verändert die Beziehung zu mir selbst, aber auch zur Umwelt und zu anderen Menschen. Ein zentraler Nutzeneffekt zeigt sich in der Trennung zwischen Beobachter und Beobachtetem, in der Psychologie als Disidentifikation bezeichnet (Weiss & Harrer 2010). Ich „identifiziere“ mich nicht mit einzelnen Gefühlen oder Persönlichkeitsanteilen, sondern erkenne, dass ich davon Abstand halten kann. Ich bin nicht meine Gefühle, sondern habe bestimmte Gefühle in diesem Moment. Ich bin nicht meine Gedanken, sondern habe bestimmte Gedanken in diesem Moment. Das bedeutet, einen gesunden Abstand zu meinen Gedanken, Stimmungen und Gefühlen einzunehmen.
Im Alltag einer Führungskraft ist das besonders in folgenden Bereichen von Bedeutung:
- Achtsamkeitsschulung stärkt die Empathiefähigkeit (Shapiro & Izett, 2008). Selbstbeobachtung führt zu einem besseren Verstehen der emotionalen Welt, zu mehr Mitgefühl für sich selbst und für andere. Empathie gilt als wichtige Führungskompetenz, wie von meiner Kollegin Christl Bubik in dem USP-D White Paper Empathie in der Gesprächsführung beschrieben ist.
- Achtsamkeit hilft dabei, sowohl eigene Grenzen als auch die Grenzen anderer Menschen, Teammitglieder beispielsweise, besser und rascher zu erkennen. Über Grenzen zu gehen, kann auf der physischen Ebene zu Krankheitsbildern wie Burn-Out führen. Auf der psychischen Ebene ist der Auf- oder Abbau von gegenseitigem Vertrauen eine Konsequenz. Siehe dazu das USP-D White Paper meiner Kollegin Anita Lung, Führung durch Vertrauen.
- Achtsamkeit stärkt die Selbstverantwortung. Es fällt leichter, Verantwortung für eigene Befindlichkeiten und Handlungen zu übernehmen und damit in die Selbstführung zu kommen. Achtsamkeit verhilft zu einem bewussteren Umgang mit dem eigenen Selbstbild, dem Erkennen wirklicher Stärken und zentraler persönlicher Kernthemen, beispielsweise narzisstischer Tendenzen. Damit kann ich meine Rolle als Führungskraft authentischer leben und meinen Mitarbeitern ein tatsächliches Rollenvorbild in Bezug auf Selbstführung sein.
Achtsamkeit üben – Wie wir unsere Führungssäge schärfen
Zu Beginn ist in der Achtsamkeitspraxis etwas Struktur hilfreich. Ich habe daher in der folgenden Tabelle beispielhafte Leitfragen zur Selbstbeobachtung für vier unterschiedliche Ebenen der Achtsamkeit zusammengestellt. Mit einiger Übung fließen die einzelnen Ebenen mehr und mehr ineinander. In der Beschreibung der Wahrnehmungen ist es anfangs sinnvoll, neutral zu formulieren. Statt aus der Ich-Perspektive „Ich bin neugierig“ zu denken, erleichtert die Aussage „da ist ein Gefühl von Neugier“ den Prozess der Disidentifikation.
Mit der Zeit und fortschreitender Praxis erweitert sich der Aufmerksamkeitsfokus fast automatisch auf die Umgebung. Emotionale Regungen eines Gesprächspartners werden damit sozusagen „nachfühlbar“.
Kraft im Selbstversuch
Zum Abschluss noch eine kleine Arbeitsaufgabe: Kreieren Sie Ihre persönliche Selbstbeobachtungsroutine.
Nehmen Sie sich jeden Tag ein paar Minuten Zeit dafür: Finden Sie heraus, wann Sie diese fünf Minuten am besten in Ihre täglichen Routinen integrieren können. Ist es am Abend, vor dem zu Bett gehen? Ist es bei der morgendlichen Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln? Ist es vielleicht tagsüber während einer Arbeitspause?
Starten Sie damit, dass Sie sich innerlich zentrieren und ruhig machen. Mit der Aufmerksamkeit durch den Körper zu wandern, kann dabei hilfreich sein. Achten Sie auf Verspannungen oder Anspannungen, und lassen Sie diese los.
Achten Sie auf die drei Aspekte der Achtsamkeit, das heißt
- Aktivieren Sie Ihre innere Beobachtungsinstanz, nehmen Sie bewusst die Beobachterposition ein.
- Fokussieren Sie auf Ihre inneren Wahrnehmungen. Welche Gefühle kommen? Welche Gedanken sind da? Gibt es Bilder?
- Registrieren Sie alles, ohne übermäßig lange an etwas festzuhalten oder sich fortziehen zu lassen, und bewerten Sie nicht.
Diesen Ablauf wiederholen Sie für eine bis drei Wochen, so lange, bis Sie sich sicherer in der Selbstbeobachtung fühlen. Erinnern Sie sich daran, dass Selbstbeobachtung mit der Zeit zu einer Routine wird, die Sie bei Bedarf aktivieren können, wie zum Beispiel in einem Mitarbeitergespräch.
Wie das Kapitel zum Nutzen achtsamen Handelns nahelegt, erleichtert und stärkt der besondere Bewusstseinszustand der Achtsamkeit die umfassende Ausbildung von Führungsbewusstsein wesentlich. Dieses wiederum ist ein Werkzeug der Führungskompetenz. Zudem wird offensichtlich, dass Achtsamkeit einen deutlichen Beitrag zum Verstehen der emotionalen Welt leistet, was gemeinhin als „soft skills“ oder soziale Kompetenz bezeichnet wird.
Nun wünsche ich Ihnen viel Freude und Erfolg beim Integrieren von Achtsamkeit in Ihren Führungsalltag. Über Anregungen, Anmerkungen und Erfahrungsberichte freue ich mich sehr.
Verwendete Literatur
- Bishop, Scott R. et.al. (2004) Mindfulness. A Proposed Operational Definition. Clinical Psychology: Science and Practice. 11/3. 230-241
- Fromm, Erich (2010) Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. München: dtv, 37. Aufl.
- Spence, Gordon B. (2006) New Directions in the Psychology of Coaching: The Integration of Mindfulness Training into Evidence-Based Coaching Practice. Dissertation. School of Psychology. University of Sydney Sydney. Australia
- Shapiro, S.L. & Izett, C.D. (2008) Meditation. A universal Tool for cultivating Empathy. In: S.F. Hick & T. Bien (Eds.) Mindfulness and the Therapeutic Relationship. New York: Guilford, pp 161-175
- Thich Nhat Hanh (1998) Die Schritte der Achtsamkeit. Freiburg: Herder
- Weiss, H. & Harrer, M.E. (2010) Achtsamkeit in der Psychotherapie. Verändern durch „Nicht-Verändern-Wollen“ – ein Paradigmenwechsel? Psychotherapeutenjournal 1/2010, S.14-24